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Die Weihnachtsferien 1984 stellen in meiner Erinnerung den emotionalen Tiefpunkt meines damaligen Lebens dar. Seit mehr als zehn Jahren empfand ich die Stimmung in meinem Elternhaus als angespannt und gereizt. Schon in den siebziger Jahren, so erinnere ich mich, bei unseren Familienpicknicks auf Zypern, hatten meine Mutter und mein Vater miteinander gestritten. Einmal besuchten wir den Strand, an dem Aphrodite, die griechische Liebesgöttin, aus den Wellen an Land gestiegen ist. Natürlich gelang es mir, mich von oben bis unten mit dem klebrigen schwarzen Teer aus einem Tankschiff zu beschmieren, der an diesem Tag dort angeschwemmt worden war. Über solche Missgeschicke konnte sich mein Vater wahnsinnig aufregen, und es lag eine geradezu elektrische Spannung in der Luft. Mein kleiner Bruder Udo und ich schlugen uns so bald wie möglich in die Dünen, während meine Eltern weiterhin darüber stritten, wer daran schuld war, dass ich mich schmutzig gemacht hatte.

Nachdem wir 1973 nach Bonn gezogen waren, gewann ich den Eindruck, dass meine Mutter zunehmend Probleme mit Alkohol hatte. In dieser Zeit in Deutschland war es auch, dass Udo und ich bei den Auseinandersetzungen unserer Eltern Partei ergriffen. Mein Bruder schlug sich eher auf die Seite meines Vaters, während ich zu meiner Mutter hielt.

Während dieser Zeit in Deutschland kam mir wohl zum ersten Mal bewusst die Idee, dass Liebe Opfer bedeutet. Meine Mutter hatte mir eines Tages auf Zypern sehr ernst gesagt, dass sie »trotz allem« bei meinem Vater bleibe, weil sie wollte, dass mein Bruder und ich »eine richtige Familie« hätten. Damals war ich zu jung gewesen, um wirklich zu verstehen, was sie meinte, aber in Bonn stellte ich fest, dass viele Eltern nicht für immer zusammenblieben. Überall in unserem Wohnblock gab es Streit zwischen Ehepaaren, und manche Nachbarn trugen ihn sehr öffentlich aus.

Mein Vater förderte meine Vorstellung, dass Liebe Opfer bedeutet, nach Kräften. Er war einer der Besten seines Ausbildungsjahrgangs an der Diplomatenschule gewesen und in den Fünfziger- und sechziger Jahren kurz hintereinander mehrmals befördert worden. Die beste Möglichkeit, seine Karriere voranzutreiben, wäre es gewesen, im Bonner Außenministerium zu bleiben, aber meine Mutter war unglücklich in der relativ kleinen Wohnung unweit des Verteidigungsministeriums, und so ließ sich mein Vater 1977 ans Generalkonsulat in Atlanta, Georgia, versetzen.

Während der ersten Jahre dort schien sich das Verhältnis meiner Eltern wieder zu bessern. Wir hatten ein großes, schönes Haus, die Pflichten des Diplomatenlebens brachten für meine Eltern ein aktives und vielfältiges gesellschaftliches Leben mit sich, und mein Bruder und ich besuchten eine angesehene Privatschule. Aber der Einsatz meines Vaters dort endete 1980, und eine weitere Beförderung setzte voraus, dass er einstweilen ins Hauptquartier nach Bonn zurückkehrte. Er entschied sich jedoch, seine Karriere dem Wohl seiner Familie zu opfern.

Seine nächste Dienstzeit endete 1983; da hatte ich noch ein Jahr bis zum Highschool-Abschluss. Viele Diplomatenkinder leiden sehr unter dem ständigen Schulwechsel, und manchmal schaffen sie nicht einmal das Abitur. Um Udo und mir ein solches Schicksal zu ersparen, sorgte mein Vater dafür, dass er ausnahmsweise eine dritte Dienstzeit in den USA absolvieren konnte. Er wurde dazu allerdings an das Generalkonsulat in Detroit, Michigan, versetzt. Wegen meines Schulabschlusses teilte sich die Familie sogar auf: Mein Vater und mein Bruder zogen 1983 in den Norden der USA, während meine Mutter und ich in Atlanta blieben, bis ich im Juni 1984 den Abschluss in der Tasche hatte.

Als ich in der zweiten Dezemberhälfte 1984 in unser neues Haus in Detroit kam, stellte ich fest, dass sich die Atmosphäre während meiner Zeit am College nicht verbessert hatte. Aber auch wenn meine Familie sich in diesen vier Monaten nicht verändert hatte – in mir war durchaus eine Veränderung vor sich gegangen, das spürte ich ganz deutlich. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich vier Monate außerhalb des Elternhauses verbracht, und jetzt konnte ich mich nicht wieder anpassen.

Viele meiner Freunde erlebten offene Konflikte mit ihren Eltern wegen ähnlicher Familienprobleme. Aber ich blieb mir immer der Opfer bewusst, die meine Mutter und mein Vater gebracht hatten, um mir und meinem Bruder ein vernünftiges Aufwachsen zu ermöglichen. Sie hatten uns alles gegeben, was wir uns wünschten, und mehr als das. Jeder Streit erinnerte mich tatsächlich daran, dass die beiden hauptsächlich »wegen der Kinder« zusammenblieben. Und so fiel es mir, im Gegensatz zu meinen Freunden, schwer, wütend auf meine Eltern zu sein. Stattdessen fühlte ich mich zerrissen und unglücklich – und schuldig.

Zu allem Unglück konnte ich mich nicht einmal zeitweise von dem häuslichen Stress der Weihnachtsferien erholen. Alle meine Highschool-Freunde waren in Atlanta, und meine College-Freunde waren in Virginia.

Und als wäre das noch nicht genug, flammte auch meine scheußliche Erstsemesterkrise wieder auf. Der geniale Sohn der Sörings, der Junge mit dem Hochbegabtenstipendium, kam nach seinem ersten Semester von der Universität nach Hause. Und alles, was ich meinen Eltern sagen konnte, war, dass meine bisherigen beruflichen Pläne, Psychologie und Journalismus, dem Druck der Realität nicht standgehalten hatten.

Ich war sehr, sehr deprimiert. Natürlich müssen alle Teenager irgendwann diese Abgründe der Verzweiflung durchmessen, die alles zerschmetternde Furcht, die mit den Selbstzweifeln einhergeht, die existenzielle Angst, die mit den hormonellen Veränderungen und den vielen Pickeln zusammenfällt. Mein Fehler bestand darin, über meine Gefühle zu schreiben. Als Elizabeth mir einen Brief aus Lynchburg schickte, wo sie die Ferien bei ihren Eltern verbrachte, antwortete ich ihr mit vierunddreißig eng getippten Seiten, einer Sammlung von Tagebuchaufzeichnungen voller Einsamkeit, Langeweile und Trübsal.

Sechzehn Monate später, nachdem Liz und ich in London verhaftet worden waren, fand die Polizei diese Briefe in unserem Gepäck. Was Liz und ich geschrieben hatten, war so verdächtig, dass sie unseren gesamten Weg bis nach Virginia zurückverfolgten und die Ermittlungen dort in Gang setzten. Hätten Elizabeth und ich diese Briefe weggeworfen, so hätte man uns vermutlich nach einer kurzen Haftstrafe wegen Scheckbetrugs wieder auf freien Fuß gesetzt, denn wegen dieses Vergehens waren wir ja ursprünglich verhaftet worden. Dann wären wir heute noch frei.

Aus der Sicht der Polizisten waren weite Teile meiner Tagebuchbriefe selbstverständlich verdächtig. Selbst mein eigener Anwalt hat mir Jahre später gesagt, nach dem ersten Lesen habe er darüber nachgedacht, auf geistige Unzurechnungsfähigkeit zu plädieren, so bizarr waren sie. Aber als ich sie schrieb, war das nur der Versuch, meine eigene Depression mit seltsamen Späßen erträglicher zu machen. Die ersten paar Seiten waren ein Experiment mit der Erzählweise des Stream of consciousness: Ich schrieb jeden Gedankenfetzen nieder, der mir in den Sinn kam, ohne irgendetwas zu sortieren oder zu korrigieren. Je verrückter, desto besser.

Ein Brief, den ich etwa zur Mitte der Weihnachtsferien schrieb, ist typisch für die schwülstigen philosophischen Ergüsse, die ich zu Papier brachte. Es handelte sich um meine Reaktion auf einen Artikel über den nationalsozialistischen Völkermord, der im Spiegel veröffentlicht worden war.[ 2] Ich begann den Brief, indem ich mein Grauen vor den Massenmorden zum Ausdruck brachte, meine Verzweiflung darüber, dass derartige Akte der Unmenschlichkeit auch heute noch vorkamen. Jeder Mensch habe eine dunkle, gewalttätige Seite, die von Diktatoren ausgebeutet werden könne, schrieb ich. In einer Passage bezog ich mich auf das klassische Bild des Totalitarismus, wie es George Orwell in seinem Roman 1984 gezeichnet hat: einen Stiefel, der ein Gesicht zertritt. Dann brandmarkte ich Politiker und Anwälte als Gewalttäter der Gegenwart und schrieb: »Ich habe noch nicht getötet – vielleicht der letzte Akt der Gewalt.« Aber, so versprach ich mir selbst, ich würde die gewalttätige westliche Zivilisation hinter mir lassen, Jefferson-Stipendiat hin oder her. Im nächsten Semester würde ich einen radikalen Bruch vollziehen und mich der fernöstlichen Religion des Zen-Buddhismus zuwenden.

Ich nahm diese philosophischen Ergüsse so ernst, dass ich im Frühjahrssemester 1985 tatsächlich die Note A für einen Kurs in Zen-Buddhismus erhielt. Heute, viele Jahre später, würde ich mich hüten, meine Gedanken und Träumereien niederzuschreiben, weil ich immer befürchten würde, ein Polizist könnte sie lesen. Selbst in einem Essay über mein Entsetzen angesichts eines Völkermords könnte eine Zeile wie »Ich habe noch nicht getötet«, aus dem Zusammenhang gerissen, zu einem schlagenden Beweismittel werden.

Wobei ich mich frage, welchen Beweiswert meine letzten paar Tagebuchbriefe dann haben, in denen ich den Kummer und das Mitleid mit meinem Vater, meiner Mutter und meinem Bruder beschrieb, meiner ganzen unglücklichen Familie. Das waren Briefe voller tiefer Verzweiflung, so tief, dass ich sogar Selbstmord in Betracht zog. Meine Freunde und ich hatten solche Dinge unzählige Male diskutiert: bei Highschool-Partys und in den Wohnheimen am College. Der einzig ungewöhnliche Zug an all diesem pubertären Seelenmüll war, dass alles fein säuberlich getippt war!

Elizabeth, die sich ebenfalls für eine Schriftstellerin hielt, hatte einen ganz anderen Zugang zur Sprache als ich. Während ich Wörter immer wieder benutzt habe, um Fakten zu prüfen und zu untersuchen, waren für sie Fakten und Realitäten das Rohmaterial, Ausgangspunkte für ihre Geschichten. Während ich Wörter benutzte, um Dinge zu enträtseln, verwendete sie sie, um etwas Neues zu schaffen. Leider war ihre Neigung zur Fiktion vollkommen unkontrolliert, und zwischen 1984 und 1985 nahm sie geradezu tödliche Ausmaße an.

Ich kann mich an keinen einzigen geschriebenen Text von Elizabeth erinnern, der nicht irgendeine Art von Übertreibung enthält, wenigstens eine oder zwei »starke Geschichten«. Aber egal ob absichtlich oder unabsichtlich, sie trennte Fakten und Fiktion niemals voneinander. Vielleicht sah sie den Unterschied auch nicht. Vielleicht glaubte sie wirklich, dass sie mit dem schönsten Mädchen in einer Lesbenbar in Charlottesville geflirtet hatte, wie sie es mir in ihrem ersten Liebesbrief beschrieben hatte.

In den Notizen, die ich in späteren Jahren für den Anwalt schrieb, waren unzählige Seiten dem Versuch gewidmet, Liz’ Lügen von der Wahrheit zu trennen. Beispielsweise bin ich ziemlich sicher, dass sie in dem Grundschulinternat in der Schweiz nicht vergewaltigt worden war. Oder wenn doch etwas Derartiges passiert ist, dann war es nicht annähernd so grauenhaft, wie sie es in unseren Gesprächen im Tree House darstellte. Während Elizabeths Prozess 1987 sagte einer ihrer Brüder aus, soweit er wisse, habe keine Vergewaltigung stattgefunden, und ich nehme an, dass er einen längeren Krankenhausaufenthalt seiner Schwester bemerkt hätte. Ein solcher wäre nämlich zwangsläufig die Folge gewesen, wenn der Angriff so stattgefunden hätte, wie ihn Liz mir beschrieb.[ 3]

Sexuell motivierte Gewalt war ein vorherrschendes Thema in Elizabeths Vorstellungswelt. Irgendwann wurde alles und jeder, den sie nicht mochte, auf die eine oder andere Weise der Vergewaltigung bezichtigt. So zum Beispiel das Internat: Liz sagte der Polizei 1986, sie habe sehr darunter gelitten, dass man sie ins Internat geschickt hätte; die Geschichte mit dem Überfall in der Schweiz war ihr Ausdruck für dieses Leiden. So zum Beispiel Miranda: Nachdem Liz aus ihrem englischen Internat weggelaufen und nach Europa geflüchtet war, brauchte sie einen Sündenbock, also erklärte sie, ihre Geliebte sei ihr gegenüber sexuell aggressiv geworden und habe sie mit lesbischer Pornographie traktiert. Jedenfalls ist das einem Brief von Colonel Fishton an Elizabeths Mutter zu entnehmen, jenem Beamten des amerikanischen Militärgeheimdienstes, der sie in Berlin aufspürte.[ 4]

Ebenso ist es im Fall der Gefängniswärter: Natürlich hassen alle Gefängnisinsassen ihre Wärter, aber ausgerechnet Liz behauptete 1986 einem Vertreter der deutschen Botschaft gegenüber, ein Wärter sei vom Dienst suspendiert worden, weil er versucht habe, sie zu vergewaltigen. Oder Mrs. Waitie, die beste Freundin ihrer Mutter: Vor ihrem Strafprozess erfuhr Elizabeth, dass diese die Absicht hatte, auszusagen. Ihrer Meinung nach war Liz aktiv an der Ermordung ihrer Eltern beteiligt gewesen. Also erzählte Liz den Ermittlern, Mrs. Waitie hätte vor vielen Jahren Annäherungsversuche bei ihr gemacht und sie an der Brust gestreichelt.[ 5]

Und dann natürlich Jens Söring: Als ihr Prozess 1987 näher kam, erzählte Liz den Polizisten und ihrem amerikanischen Psychiater drei unterschiedliche Versionen der Geschichte, wie ich sie in der Nacht der Beerdigung ihrer Eltern vergewaltigt hätte. In der ersten Version war sie betrunken gewesen, in der zweiten vollgestopft mit Beruhigungsmitteln, in der dritten hatte ich sie im Schlaf überfallen. Angeblich war es mir auch nur mit Hilfe von harter sadistischer Pornographie möglich, sexuell erregt zu werden, und ich hatte Phantasien von einem Folterkeller, in dem ich Elizabeth mit einem Lötkolben quälen konnte. Und nicht zuletzt hatte ich sie immer wieder geschlagen und unsere Katze mit einem Messer traktiert.[ 6]

Die detailliertesten und verstörendsten Anschuldigungen dieser Art brachte Elizabeth jedoch gegen ihre Eltern vor – und bei diesen Vorwürfen gab es, im Gegensatz zu den obengenannten, Fotos und Zeugen, die ihre Behauptungen stützten. Während unserer langen Gespräche im Tree House erzählte sie mir, nach der Vergewaltigung in der Schweiz habe ihre Mutter ihr vorgeworfen, den Überfall provoziert zu haben. Die angebliche Vergewaltigung hatte in einer Bar stattgefunden, während Liz die Schule schwänzte. In der biederen Schweiz war der Besuch einer Bar gleichzusetzen mit der Provokation sexueller Annäherungsversuche, also hatte sie die Situation herausgefordert, so ihre Mutter. Elizabeth sei eine Hure und habe die angebliche Vergewaltigung nur erfunden, um nicht selbst die Verantwortung für ihr Verhalten übernehmen zu müssen. Solche Anschuldigungen gab Mrs. Haysom angeblich von sich, wenn sie betrunken war, und Liz sagte, sie habe derartige seelische Grausamkeiten nach der Vergewaltigung jahrelang erdulden müssen.

Aber mit den verletzenden Worten war es nicht genug, erzählte sie mir. Wenn sie betrunken genug war, behauptete ihre Mutter angeblich, Elizabeth, die ja ohnehin eine Hure war, könne doch nichts dagegenhaben, Sex mit ihrer Mutter zu haben. Und so habe Mrs. Haysom jedes Mal, wenn Liz während der Ferien nach Hause kam, eine Gelegenheit abgepasst, um ihre Tochter sexuell zu berühren. Bald hätten sich diese Episoden zu regelrechtem sexuellem Missbrauch ausgeweitet, und ihre Mutter habe sie gezwungen, sexuelle Handlungen an ihr vorzunehmen. Als sie mir davon im Tree House erzählte, ging sie nicht weiter ins Detail, und ich hütete mich, sie weiter auszufragen, weil sie den Tränen nahe schien.

Es ging aber noch weiter. Angeblich hatte Mrs. Haysom in späteren Jahren ein regelrechtes sexuelles Ritual für sich und ihre Tochter entwickelt, bei dem die beiden erst zusammen badeten und dann miteinander schliefen. Und schließlich umfasste der Missbrauch auch Mrs. Haysoms Hobby: die Fotografie. Sie machte Nacktfotos von Elizabeth, oft im Garten hinter dem Haus, und demütigte ihre Tochter dann, indem sie die Fotos Freundinnen wie Mrs. Waitie zeigte. Diese Demütigungen sollten beweisen, dass Liz tatsächlich eine Hure war.

Mr. Haysom seinerseits unternahm nichts, um seine Tochter vor ihrer Mutter zu schützen. Elizabeth erzählte mir, sie habe sich in den ersten Jahren häufig an ihn gewandt, aber seine einzige Reaktion habe darin bestanden, wie eingefroren vor sich hin zu starren, bis seine Tochter das Zimmer verließ. Sie wusste nicht einmal, ob ihr Vater sie für eine Lügnerin hielt oder ob es ihm einfach gleichgültig war; er wollte nur nicht in die Sache hineingezogen werden. Seine Ehe mit Elizabeths Mutter war eine Formsache ohne Gefühle, seine Tochter hatte sich höchst unpassend entwickelt – warum sollte er sich in das Verhältnis zwischen den beiden einmischen? Mr. Haysom interessierte sich nur für seine Arbeit, und nachdem er in den Ruhestand gegangen war, beschäftigte er sich ausschließlich mit seinem Hobby, dem Kurzwellenradio.

In den Monaten vor ihrem Strafprozess 1987 wiederholte Liz eine Version dieser Anschuldigungen gegenüber der Polizei und ihrem amerikanischen Psychiater, aber im Prozess selbst widerrief sie sämtliche Aussagen, als sie vom Vertreter der Anklage ins Kreuzverhör genommen wurde.[ 7] Zu dieser Zeit stellte Kindesmissbrauch noch ein Tabuthema dar, für das niemand rechtes Verständnis aufbrachte. Viele Anwälte gingen im Gerichtssaal sehr hart mit den Opfern sexueller Straftaten um, in einem Ausmaß, das heute kaum mehr geduldet würde.

Wie sich später herausstellte, standen die Strafverfolgungsbehörden, der Staatsanwalt eingeschlossen, unter erheblichem Druck der Familie, die ihren guten Ruf in Gefahr sah. Dass man Elizabeth im Zeugenstand dazu zwang, ihre Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs zu widerrufen, war leider bei weitem nicht der einzige Beweis für die Beflissenheit der Behörden gegenüber den Haysoms.

Die Angriffe des Staatsanwalts auf Liz waren umso überraschender, als er jede Menge Gründe hatte, ihren Aussagen Glauben zu schenken, viel mehr als in den meisten anderen Fällen sexueller Übergriffe.

Zunächst gab es tatsächlich diese Nacktfotos, sie wurden vor Gericht als Beweismittel verwendet. Zum Zweiten sagte Mrs. Waitie aus, dass Mrs. Haysom ihr und anderen Freundinnen die Nacktfotos ihrer Tochter gezeigt habe, die sie angeblich als Studien für ihre Aquarellmalerei brauchte. Aber nirgendwo im Haus der Haysoms wurde jemals ein Aktbild von Elizabeth gefunden, das ihre Mutter gemalt hatte. Zum Dritten sagte der bekannte Lynchburger Psychiater Dr. C. Showalter sowohl im Prozess als auch in einem ausführlichen schriftlichen Gutachten aus, es habe definitiv eine sexuelle Beziehung zwischen Nancy und Elizabeth Haysom gegeben. Sowohl in Bedford als auch sonst auf der Welt haben sich Staatsanwälte von wesentlich schwächeren Indizien überzeugen lassen.

Aber dieser Fall ist natürlich ein wenig anders gelagert. Bei Elizabeths Strafprozess 1987 ließ der Richter sowohl die Nacktfotos als auch das psychiatrische Gutachten versiegeln, so dass bis zum heutigen Tag niemand einen Blick darauf werfen konnte. Dieser Richter war und ist, wie sich zeigte, ein guter Freund von Nancy Haysoms Bruder. Und 2008 berichtete mir ein Produzent von Discovery Channel, die Mitschriften von Liz’ Prozess seien aus dem Gerichtsarchiv verschwunden. Die offizielle, notariell beglaubigte Kopie in meinem Besitz stellt möglicherweise inzwischen das einzige existierende Exemplar dieser Mitschriften dar. Sollte irgendjemand die Akten dieses Prozesses studieren wollen, so würde er keinen einzigen Hinweis darauf finden, dass Nancy Haysom ihre Tochter sexuell missbraucht haben könnte. Sehr bemerkenswert.

In den letzten fünfundzwanzig Jahren habe ich viel über das Thema Kindesmissbrauch gelesen, um zu verstehen, was in Liz vorging und wie ihre Motive aussahen. Die Experten sind sich einig, dass in praktisch allen Fällen andere Familienmitglieder von dem Missbrauch wissen. Höchstwahrscheinlich haben also auch einige Verwandte von Nancy und Derek Haysom über die »sexuelle Beziehung« zwischen Mutter und Tochter Bescheid gewusst. Und es ist durchaus denkbar, dass einige dieser Verwandten sich nach den Morden schuldig fühlten, weil sie nicht rechtzeitig eingegriffen hatten. Ich selbst fühlte und fühle mich an diesem Punkt ausgesprochen schuldig – schließlich hatte Liz sich auch mir offenbart –, also ging es ihnen möglicherweise ähnlich wie mir.

Und wenn einige Familienmitglieder der Haysoms sich schuldig gefühlt haben, weil sie nicht rechtzeitig eingegriffen haben, dann würde das möglicherweise erklären, warum man sich so viel Mühe damit machte, jeden Hinweis auf den Missbrauch aus der Welt zu schaffen. Das wäre dann auch eine Erklärung dafür, warum mich einige Familienmitglieder so sehr hassen: Ich bin der Einzige, der das Thema bis heute zur Sprache bringt, sowohl in meinem ersten Buch von 2003 als auch in der Petition im Zusammenhang mit dem DNA-Test von 2011 und in verschiedenen Zeitungs- und Fernsehinterviews.

Mir ist vollkommen klar, dass meine Hartnäckigkeit an diesem Punkt für die Familie der Opfer sehr schmerzhaft sein muss, und ich bedauere das sehr. Aber was soll ich sonst machen? Ich bin unschuldig! Ich weiß, Liz hat ihre Eltern umgebracht, und den Grund dafür sehe ich in dem sexuellen Missbrauch. Ich kann darüber nicht schweigen.

Es handelte sich um einen unglaublich gewalttätigen Doppelmord: Dutzende von Stichwunden, bis zur Halswirbelsäule durchgeschnittene Kehlen … Wer auch immer dieses Verbrechen begangen hat, war wütend bis zur Raserei, geistig labil und stand vermutlich unter Drogeneinfluss. Was kann diese Wut begründen, wenn nicht sexueller Missbrauch?

Und sexueller Missbrauch würde auch noch vieles mehr erklären. Wie ich später erfuhr, wurde an Elizabeth eine Borderline-Persönlichkeitsstörung festgestellt, eine sehr häufige Diagnose im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch in der Vorgeschichte. Die Tatsache, dass sie Drogen nahm und von zu Hause (beziehungsweise aus dem Internat) weglief, ist ebenfalls ein häufiges Merkmal von Opfern sexueller Übergriffe. Selbst ihre pathologische Neigung zum Lügen, die ebenfalls psychiatrisch festgestellt wurde, und ihr häufiges Vermischen von Phantasie und Wirklichkeit ergibt Sinn, wenn man den damit verbundenen Schutzmechanismus begreift.

Sexuell motivierte Gewalt war ein häufiges Thema in Elizabeths »starken Geschichten«, von denen ich bereits sprach. Auch dies lässt sich leicht erklären, wenn man annimmt, dass sie tatsächlich von ihrer Mutter sexuell missbraucht wurde. Ab einem bestimmten Punkt erlebte Liz offenbar jede echte oder eingebildete Bedrohung als sexueller Natur. So seltsam es klingen mag: Psychologisch oder subjektiv sagte sie wahrscheinlich die Wahrheit – ihre Wahrheit, wie sie sie sah und fühlte.

Natürlich kann ich das erst heute so sehen, nach jahrzehntelangem Lesen und Studieren und Zusammensetzen der Fakten. 1984 jedoch konnte ich Elizabeths Behauptungen einfach nur als Tatsache hinnehmen, und das erklärt wohl auch, warum ich während der Weihnachtsferien 1984 nicht allzu entsetzt war, in einem ihrer Tagebuchbriefe Phantasien über den Tod ihrer Eltern zu lesen. Wenn ich davon ausging, dass ihr Vater sie der sexuellen Perversion ihrer Mutter ausgeliefert hatte, musste ich mit den Gefühlen sympathisieren, denen sie in diesem Brief Ausdruck verlieh. Meine einzige Sorge zu dieser Zeit war, wie ich sie nach Kräften trösten und seelisch unterstützen könnte.

Anders als meine eigenen Tagebuchbriefe war Elizabeths Brief nicht ordentlich getippt, sondern fast unleserlich hingekritzelt. Die Zeilen wanderten in wechselnden Winkeln schräg über die Seite. Nachdem wir ein Paar geworden waren, hatte Liz mir versprochen, mit den Drogen aufzuhören, aber die Art, wie sie schrieb, ließ mich vermuten, dass sie ihr Versprechen nicht hatte halten können. Ich machte ihr keinen Vorwurf, sondern akzeptierte ihre Entschuldigung, dass sie die Drogen brauchte, um das grauenhafte Leben zu Hause zu ertragen.

Elizabeth begann ihren Brief mit dem Bericht, wie sie und Jeff Ranchero, der Sohn einer angesehenen Familie aus Lynchburg, mit Jeffs homosexuellem Geliebten losgezogen waren, um Marihuana zu kaufen. Dann folgten einige gezeichnete Skizzen von ihr selbst und ihren Eltern. Eine besonders eindrucksvolle Zeichnung war als umgedrehtes Dreieck angelegt, bei dem ihre Mutter und ihr Vater drohend über ihr hingen. Der Stil der Porträts ähnelte Edvard Munchs Der Schrei; ihre Mutter und ihr Vater waren als böse, drohende Wesen dargestellt, während sie in aufheulendem Schrecken unter ihnen litt.

Die meisten der Tagebuchbriefe, die Liz mir schickte, waren geschriebene Varianten des immer gleichen Themas: In starken Worten artikulierte sie ihre tiefe Abneigung gegen ihre Eltern, beschrieb sie als ständig betrunkene, hasserfüllte Menschen, die jeden ihrer Schritte kontrollieren wollten. In einer Passage fragte sie sich: »Ob es wohl möglich wäre, meine Eltern zu hypnotisieren, Voodoo an ihnen auszuüben, damit sie sterben?«[ 8]

Als ich diese Worte las, war meine einzige Reaktion ein überwältigendes Mitleid für Elizabeth. Wie sehr musste sie leiden, dass sie es auf diese Weise ausdrückte! Ich glaubte sogar, ein tiefergehendes, halbprofessionelles Verständnis für Liz’ Persönlichkeit zu besitzen, weil ich während der Highschool relativ viele Psychologiebücher gelesen hatte. Mit der ganzen Weisheit meiner achtzehn Jahre schloss ich, dass Elizabeths Phantasie, ihre Eltern durch Voodoo umzubringen, ihre Art war, Humor einzusetzen, um sich von ihrem eigenen Zorn zu distanzieren. Freud hatte das ja alles erklärt, es war ganz offensichtlich! Warum sonst sollte sie sich etwas so Lächerliches und Unrealistisches aussuchen wie Voodoo?

Also reagierte ich auf Elizabeths scheinbar humorvolle Voodoo-Phantasie, indem ich mitspielte. Ich hielt es für das Beste, sie darin zu ermuntern, ihrer Frustration und ihrem Zorn auf diese Weise ein Ventil zu verschaffen; die Alternative war schließlich, dass sie mit Jeff Ranchero Marihuana rauchte! Außerdem konnte ich sie, indem ich auf ihre Phantasien einging, wissen lassen, dass ich auf ihrer Seite stand und dass sie in ihrem Leid nicht allein war. Nachdem Voodoo offenbar ihr Running Gag war, antwortete ich, indem ich jeden Werwolf-, Dracula- und Frankenstein-Film zitierte, der je gedreht worden war. »Seltsame Dinge gehen in mir vor«, woraufhin der Vollmond aufging und Lon Chaney sich in einen Vampir verwandelte. Natürlich war das nicht gerade brüllkomisch. Aber ich war selbst deprimiert, und ihr Leben schien auch nicht besonders lustig. Die vollständige Passage, mit der ich auf Elizabeths Voodoo-Phantasie antwortete, lautet folgendermaßen:

Übrigens, wenn ich Gelegenheit hätte, Deine Eltern zu treffen, hätte ich schon die ultimative ›Waffe‹. Seltsame Dinge gehen in mir vor. Ich verwandle mich immer mehr in eine Christusfigur, oder eher in eine kleine Imitation, glaube ich. Entweder würden sie vollkommen durchdrehen, einen Herzanfall bekommen oder von da an die ganze Welt lieben – Agape, versteht sich.[ 9]

Jahre später versuchte die Polizei, meine Formulierung mit der »Waffe« in dieser Passage so zu interpretieren, dass ich einen Mord geplant hätte. Dieser Versuch kam mir immer sehr weit hergeholt vor. Hielt es wirklich irgendjemand für möglich, dass ich den Mord an den Eltern meiner Freundin durch psychisch herbeigeführte Herzinfarkte geplant hätte? Außerdem hatte ich den Begriff »Waffe« ja nicht ohne Grund in Anführungszeichen gesetzt: »… die ultimative ›Waffe‹. Seltsame Dinge …«

Tatsächlich hatte ich lediglich meiner Überzeugung Ausdruck verleihen wollen, dass die Macht der »Liebe« alles überwinden kann. Das Ganze war ein zugegebenermaßen schwacher Versuch, Liz’ düstere Voodoo-Phantasie aufzugreifen, mit ihr zu spielen, um Liz zu trösten und sie dann in etwas Positives umzuwandeln. Ich wollte Elizabeth daran erinnern, dass sie jetzt eine Waffe gegen all ihr Leiden besaß, eine Kraft zum Guten: unsere Liebe.

Meine Tagebuchbriefe enthielten nur noch einen einzigen anderen Bezug auf Liz’ Brief. Dort heißt es an einer Stelle: »… ›Voodoo‹ etc. ist möglich.« Wieder benutzte ich Anführungszeichen, um damit zu sagen, dass echter Voodoo gar nicht existiert, dass aber das damit verbundene Phänomen der Autosuggestion durchaus möglich ist.

Insgesamt beschäftigt sich vielleicht eine halbe Seite meiner vierunddreißigseitigen Tagebuchbriefe mit einer Antwort auf Elizabeths Phantasien, ihre Eltern umzubringen. Und vo